Gehören Sie auch zu den Menschen, die schon beim Wort Konflikt eine Stirnfalte ziehen und sich unwohl fühlen? Damit sind Sie nicht allein! Konflikte werden von den meisten Menschen als negativ angesehen und werden deswegen möglichst vermieden. Im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung passiert dann das, was man eigentlich vermeiden wollte: Der Konflikt eskaliert, die Situation, wegen derer der Konflikt entstanden ist, bleibt ungeklärt, die Fronten verhärten sich und die Aussicht auf eine konstruktive Konfliktlösung gerät in weite Ferne. Ich würde mich freuen, wenn Konflikte eine etwas bessere Presse erhielten, denn Konflikte sind wertvoll und produktiv. Um dies so sehen zu können, hilft ein Perspektivwechsel. Für mich sind Konflikte „einfach nur“ ein Ausdruck von …
… Bedürfnissen, Anliegen, Wichtigkeiten, etc. der beteiligten Personen
… der Unterschiedlichkeit / Verschiedenheit der involvierten Personen, die die Verhandlung und Befriedigung von ersterem erschweren
Mitarbeiter und Kollegen bei einer Lösung von Konflikten zu unterstützen oder eigene Konflikte mit Mitarbeitern, Vorgesetzen oder Kollegen zu lösen, heißt letztlich immer, einen möglichst guten Umgang mit der Unterschiedlichkeit der Beteiligten zu finden – ohne den Anspruch zu haben, dass sich diese Unterschiede komplett auflösen müssen. Auf dieser Basis fällt es mir ganz leicht, ein Plädoyer für Konflikte zu verfassen. Vielleicht fällt es Ihnen dann leichter, die positiven Aspekte, die mit Konflikt verbunden sind, zu sehen und Konflikte eher als Segen statt als Fluch zu begreifen. Wem das noch nicht reicht, der findet in diesem Artikel fünf schlagende Argumente, wieso Konflikte so wichtig und wertvoll sind.
1. Konflikte sind Warnsignale bzw. Indikatoren für notwendige Veränderungen
Vielleicht war das auch in Ihrem Unternehmen so: (Vermeintlich) schlaue Köpfe haben sich zusammengesetzt, lange diskutiert und sind dann auf bestimmte Umstrukturierungsmaßnahmen gekommen, die DIE Verbesserung sein sollen. Mit der Zeit merkt man jedoch, da stimmt etwas nicht mit den neuen Strukturen. Und statt gut geölten Zahnrädern, die perfekt ineinandergreifen, gibt es Reibungen. Diese Reibungen machen deutlich, dass bestimmte Strukturen vielleicht nicht zueinander passen und bieten daher die Chance, festgefahrene und verkrustete Systeme durch Veränderungsmaßnahmen anzupassen. Dabei ist wichtig zu beachten, dass es „die eine“ ultimative Lösung nicht gibt. (Und nie geben wird.) Es gilt, immer wieder neu auszuhandeln, was in einer bestimmten Situation den Vorrang bekommen soll und welche Entscheidung vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Entwicklungen zu treffen ist. Das kann und wird sich ändern.
2. Konflikte sind Voraussetzung für das Überleben der Organisation
Arnold Retzer, ein Mediziner und Psychotherapeut hat es einmal schön auf den Punkt gebracht, in dem er sagte: „Eine konfliktfreie Organisation ist eine tote Organisation“. Eine Organisation ist nur lebendig, solange sie auch Konflikte hat.
Warum das so ist? In Organisationen existieren unterschiedliche Subsysteme (Abteilungen, Bereiche), die jeweils unterschiedliche Aufgaben verfolgen. Das ist das Prinzip der funktionalen Differenzierung. Die ist notwendig, denn kein Mensch allein kann gleichzeitig Produkte vertreiben, sie entwickeln und sie produzieren. Weil Entwickler (oder auch Personalentwickler) eher in der „Investitionslogik“ denken (neues voranbringen, Zuwachs an Wissen, Kompetenz etc.), andere Bereiche in der „Umsetzungslogik“ (Qualität sichern durch Bewährtes, fehlerlos produzieren etc.), sind Konflikte die logische – aber eben auch die unvermeidliche – Folge. Konflikte sind also vorprogrammiert, wenn z.B. das Controlling als regelnde Instanz dafür sorgt, dass die Entwickler nicht mit ihren Ideen „Samba tanzen“, wenn die Entwicklung als Treiber und Generierer für neues Wachstum dafür sorgt, dass sich die Mitarbeiter in der Produktion die Haare raufen. Die gegenseitige Abhängigkeit kann hier und da die gefühlte Konfliktspannung erhöhen: Die Produktion hat nur dann zu tun, wenn der Vertrieb Aufträge an Land zieht, Vertriebsmitarbeiter wären wiederum aber arbeitslos, wenn es niemanden gäbe, der über die Produkte Bescheid weiß und sie in ausreichender Qualität produziert. Es braucht unterschiedliche Blickwinkel und Expertise (sie machen den Wissens-Wert eines Unternehmens aus und ermöglichen optimierte Ergebnisse) für das Überleben der Organisation und gleichzeitig ist das der Ausgangspunkt für Reibung und Konflikt.
3. Wo ordentlich gestritten wird, findet die beste Mobbingprophylaxe statt
Auch dieses Zitat stammt von Arnold Retzer und will deutlich machen, dass Mobbing eigentlich nur entsteht, weil meistens versucht wird, Konflikte zu vermeiden. Es fängt vielleicht mit komischen Blicken an, geht mit Getuschel hinterm Rücken weiter und endet möglicherweise in der systematischen Ausgrenzung bestimmter Mitarbeiter. Warum? Ein Grund für dieses Verhalten ist eine ausgeprägte „Konfliktvermeidungskultur“. Diese verbündet sich oft mit wenig Akzeptanz und Toleranz für Fehler, was wiederum zu Unehrlichkeit und Lästerei führt. Wenn Probleme oder Ungereimtheiten nicht angesprochen werden, besteht die Gefahr, dass wir personalisieren, d.h. die Person als Ganzes abstempeln – egal ob es nun um eine Kleinigkeit geht oder nicht. Das ist weder für die beschuldigte Person noch für uns selbst angenehm und am Ende ist die ganze Organisation benachteiligt, da wertvolle Symbiosen durch Teamzusammenarbeit u.Ä. verloren gehen.
4. Einen Konflikt zuzulassen hilft dabei, unangenehme Situationen zu bereinigen
Die Stimmung im Team ist schon länger miserabel. Langsam breitet sich ein negatives Klima aus, als wäre etwas in der Luft, das Atmen schwerer macht. Wenn Sie an den bevorstehenden Arbeitstag mit einer ganz bestimmten Kollegin denken, entsteht vielleicht so ein unangenehmes Bauchgefühl oder das Kopfkino macht sich selbstständig. Aufgeschoben ist dann halt doch nicht aufgehoben. Also – ran an den Speck! Trauen Sie sich und sprechen Sie den im Raum stehenden Konflikt an: Durch einen offen ausgetragenen Konflikt können Unklarheiten beseitigt werden. Denn wenn nie offen kommuniziert wird, kann sich das Problem auch nicht von alleine lösen. Schafft man es, Verständnis füreinander zu entwickeln und näher zusammenzurücken, kann z.B. auch bei herrschendem Konkurrenzkampf unter den Mitgliedern, das Teamgefühl und Arbeitsklima gefördert werden.
5. Konflikte ermöglichen uns die Sichtweisen anderer kennenzulernen und erzeugen Transparenz und Innovation
Wenn gestritten wird, werden Argumente hin und her geschossen und Meinungen preisgegeben. Die Vielfalt an Ansätzen, Ideen, Perspektiven und Kompetenzen im Unternehmen wird deutlich. Ergreift man diese Chance, können gemeinsam innovative Lösungen geschaffen werden. Konflikte können dadurch zu besonders kreativen Prozessen werden, wenn es gelingt, den Schlichtungsprozess an den gemeinsamen Zielen auszurichten. Durch die Offenlegung von Potenzialen und Ressourcen können die Effizienz in Unternehmen sowie Arbeitsergebnisse verbessert werden, indem durch konstruktive Konfliktbewältigung der Energiezustand einer gesamten Organisation erheblich verbessert wird. Weg von angenehmer Trägheit oder destruktiver Energie hin zu einem produktiven Energiezustand, in dem die Mitarbeiter gemeinsam Change- und Innovationspotenziale erzeugen.
Ein sehr empfehlenswertes Buch zum Thema: Organisationale Energie. Wie Sie das Potenzial Ihres Unternehmens ausschöpfen von Heike Bruch und Bernd Vogel (erschienen bei Springer).
Lange Rede kurzer Sinn: Vergessen Sie die Angst vor Konflikten, springen Sie über Ihren Schatten und betrachten Sie Unstimmigkeiten als nützliche Herausforderung, an der Sie und ihr Team wachsen können, denn ein gutes Team zeichnet sich nicht durch optimale Konfliktvermeidung aus, sondern durch den konstruktiven Umgang mit ihnen. Was das heißt, hängt von der jeweiligen Situation ab. Herrscht dicke Luft und ein schlechtes Klima, geht es vorrangig um Beziehungsgestaltung und Teampflege, herrscht ein tiefgreifendes Unverständnis der Position des Anderen vor und sind die Positionen festgefahren, geht es um Perspektivwechsel („Was an der Position des Anderen kann ich zumindest in Teilen verstehen?“), um von dort aus weitere Handlungsoptionen und Konfliktlösungen zu erschließen. Werden gar psychologische Spielchen getrieben, hilft Metakommunikation, d.h. anstelle zu versuchen, durch das eigene geschickte Agieren das Spielchen zu gewinnen, aus ihm auszusteigen und zum Thema zu machen, was in der Situation gerade läuft und von dort aus ein Anliegen zu formulieren („Ich bemerke, wir kriegen uns bei jeder Diskussion spätestens nach 20 Minuten in die Haare. Ich habe noch keine Ahnung, wie wir das verändern, aber ich hätte daran ein Interesse. Sie auch?“).