Dieser Artikel ist eine Premiere: Ein Beitrag, der nicht aus meiner eigenen Feder stammt. Entstanden ist er aus einer Reihe von gleichermaßen leichtgängigen wie tiefschürfenden Gesprächen mit Jasmin Schneider, die als Sterbehelferin arbeitet und dabei dem Leben so nah ist. Sie hört oft „Das wäre nichts für mich“, wenn sie davon berichtet, dass sie als ehrenamtliche Mitarbeiterin bei einem ambulanten Hospizdienst tätig ist. Wir aber sind uns einig: Wer sich selbst zumutet, sich mit dem „Tabu“-Thema Sterben zu beschäftigen, erlebt vor allem eins: Eine Bereicherung für das eigene Leben. Was das konkret sein kann, wird Ihnen Jasmin Schneider in diesem Artikel in fünf Lektionen „beizubringen“ versuchen. Damit leistet sie in meinen Augen einen Beitrag zu mehr Achtsamkeit und Bewusstheit im Leben.
Lektion 1: Den Blick für’s Wesentliche schärfen.
Im Alltag machen wir uns selten Gedanken darüber, was uns für die Zeit am Ende des eigenen Lebens wichtig sein könnte, was uns in dieser Zeit noch ‚glücklich‘ machen würde. Zugegebenermaßen ist das gar nicht einfach zu beantworten, aber im Rahmen der Sterbebegleitung stellt man sich irgendwann automatisch auch selbst die Frage: Was wäre mir denn wichtig? Diese Frage erfordert einen Perspektivwechsel, der Aufschluss über viele Dinge geben kann, die uns zuvor vielleicht nicht offensichtlich klar, nicht bewusst waren. Sich diese Frage in Ruhe zu stellen und sich auf die ganz eigene Antwort darauf einzulassen, schärft den Blick für das, was uns auch im Hier und Heute wichtiger sein sollte. Es ermöglicht uns, Wesentliches von Unwesentlichem deutlicher unterscheiden zu können – und es verleiht die Kraft und den Mut dazu, das eigene Leben anhand dieser Erkenntnis neu zu gestalten.
Tipp: Gönne dir die Zeit, darüber nachzudenken, was dir im Leben wirklich wichtig ist.
Lektion 2: Achtsamkeit, Achtsamkeit, Achtsamkeit – und Dankbarkeit!
Wenn du nur noch einen Tag zu leben hättest… – eine hypothetische Frage, aber gar nicht allzu weit hergeholt: Wenn wir Menschen sterben müssen, dann passt das eigentlich selten in unseren (Lebens-) Plan. Aber unabhängig vom Alter, unabhängig von den eigenen Plänen und Intentionen, es wird für uns alle der Tag kommen, an dem es kein Morgen mehr gibt, auf das wir bestimmte Dinge verschieben können. An denen wir die Dinge, die uns heute noch selbstverständlich erschienen, vermissen werden, und gerne nur noch ein einziges Mal erleben, wahrnehmen und genießen würden. Sich noch einmal von der Wärme der ersten Sonnenstrahlen im Frühling auf der Nase kitzeln lassen, noch einmal den eigenen geliebten Garten sehen, beobachten, wie er langsam vom ersten Schnee bedeckt wird. Morgens an der Seite einer geliebten Person aufwachen, gemeinsam einen guten Café genießen. Solche Dinge halten wir im gewöhnlichen Alltagstrott viel zu häufig für selbstverständlich und nehmen gar nicht wahr, dass sie das eigentlich gar nicht sind. Wir lassen diese kostbaren Momente viel zu oft unbeachtet an uns vorbei ziehen und würdigen sie nicht in dem Ausmaß, wie wir das ihrer Bedeutung nach eigentlich tun sollten. Wir sollten uns hin und wieder die Zeit nehmen, sie ausgiebig zu betrachten und zu genießen. Mit all unseren Sinnen bei ihnen zu verweilen, kurz inne zu halten, und uns über ihren Wert klar sein – jetzt, und hier und heute.
Tipp: Genieße ganz bewusst schöne Momente, die du heute vielleicht für selbstverständlich hältst.
Lektion 3: Gelassenheit.
Wenn man sich einmal ganz bewusst der Frage gestellt hat, was im eigenen Leben von Bedeutung ist und sein soll, und man sich darüber klar wird, wie wenig selbstverständlich vieles ist, dann wird man automatisch in vieler Hinsicht gelassener. Gelassener, was Unstimmigkeiten oder Aufregungen des alltäglichen Wahnsinns angeht, die zu anderen Zeiten einen katastrophalen Wutanfall ausgelöst hätten. Dabei besitzt jeder von uns einen inneren Radar, der uns dabei hilft, Dinge anhand verschiedener Dimensionen wie Wichtigkeit, Sinnhaftigkeit, Bedeutungslosigkeit oder Irrelevanz einzuordnen. Diesen Radar ignorieren wir allerdings, weil seine Hinweise zu oft in Widerspruch zu den Anforderungen stehen, die von unserer Umgebung an uns heran getragen werden. Wenn wir diesem Radar wieder trauen lernen und uns von ihm leiten lassen, kann das einen sehr guten Schutz angesichts einer immensen Vielzahl an Stressoren des Alltags bieten.
Tipp: Entscheide dich bewusst dafür, welche Dinge dich Nerven kosten dürfen, und welche nicht.
Lektion 4: Den Moment perfekt machen, anstatt darauf zu warten, dass er es irgendwie von sich aus wird.
„Ich gehe lieber auf Nummer sicher und warte lieber erst mal ab, bis…“ – ja, bis was eigentlich? Oft reden wir uns selbst ein, dass der richtige Zeitpunkt für bestimmte Dinge einfach „erst noch kommen müsse“. Anstatt unseren Intuitionen nachzugehen und zu vertrauen, tun wir sie ab und verschieben sie auf einen unbekannten Zeitpunkt. Worauf wir dabei eigentlich wirklich warten, wissen wir meist selbst nicht genau. Wenn dir eine Sache aber so wichtig erscheint, dass du immer wieder mit dem Gedanken spielst, es doch vielleicht probieren haben zu müssen, dann hat dieser innere Impuls schon seine Daseins-Berechtigung. Sollte sich der eigene Perfektionismus dem Tatendrang dann in den Weg zu stellen wagen, dann kann man sich an diesen Rat halten, den mir eine gute Freundin einmal nachdrücklich erteilte: „Done is better than perfect!“
Tipp: Solange wir es nicht besser wissen, gilt: Wir haben eine einzige Chance, um das Leben mit allen Sinnen, Höhen und Tiefen voll auszuschöpfen.
Lektion 5: Aushalten.
Wenn wir erfahren, dass jemand im Bekannten- oder Freundeskreis möglicherweise kurz vor einem schweren Verlust steht, oder diesen auch schon erlitten hat, dann fühlen wir uns meistens sehr ohnmächtig und haben nicht wirklich das Gefühl, etwas sagen, etwas hilfreiches Tun zu können. Oftmals sind wir so überfordert, dass schon die alleinige Vorstellung darüber, der Person zu begegnen, Unbehagen in uns auslöst („Was soll man denn auch sagen?“). Im Prinzip wissen wir, dass es gerade solche Situationen sind, die unsere Mitmenschlichkeit erfordern und in denen es wichtiger ist denn je, „da“ zu sein. Faktisch verwehren wir unserem Gegenüber aber häufig lieber unser „offenes Ohr“, um uns selbst zu schützen, vor der Auseinandersetzung mit einer Thematik, mit der sich am Ende des Tages eben doch jeder Mensch auseinander setzen wird müssen. Diese Taktik des Wegschauens führt einerseits dazu, dass betroffene Menschen zu ihrer eigentlichen Situation miterleben müssen, dass sich mit vielen Freunden gar nicht so viel anfangen lässt, weil diese in wirklich schwierigen Zeiten zu sehr damit beschäftigt sind, sich selbst vor der Auseinandersetzung mit diesem unliebsamen Thema zu schützen. Eine offene, ehrliche, authentische und auch geduldige Bereitschaft, bei Bedarf zur Verfügung zu stehen, zu signalisieren, dass man mittragen, mitgehen und vor allem einfach auch mit aushalten versuchen will, ist vielleicht das Größte, was man als Freund in solchen Situationen anbieten kann.
Durch unser Verdrängungsverhalten (so lange ignorieren wie nur möglich) nehmen wir uns aber auch selbst eine wichtige Erfahrung, an der wir immens wachsen können. Wir verpassen dadurch die Chance, zu erleben, dass man auch Situationen, die schon unsere Vorstellungskraft von Schwere und Traurigkeit übersteigen, zu einem gewissen Ausmaß mit gestalten und mit schönen Momenten füllen kann. Dass es Momente voller Wut und Traurigkeit und Angst gibt, aber dass es eben auch Momente gibt, in denen alle Beteiligten spüren, wie wertvoll gemeinsame Momente, Gespräche und auch Abschiede sein können. Wir nehmen uns selbst die Chance, die wichtigen Erkenntnisse, die unsere Endlichkeit mit sich bringt, in die Tat umzusetzen.
Tipp: Traue dir selbst die Auseinandersetzung mit dem Thema „Sterben“ zu, und du wirst über die neue Qualität mancher Gespräche und Beziehungen staunen.
Literatur-Empfehlungen zum Thema
Daniela Tausch-Flammer & Lis Bickel: Jeder Tag ist kostbar. HERDER spektrum Verlag.
Ein bereicherndes und faszinierendes Buch, das genau das vermittelt, was der Titel ankündigt: Jeder Tag ist kostbar.
dada peng – mein buch vom leben und sterben
Eines meiner Lieblingsbücher zum Thema Sterben und Tod – der Künstler Dada Peng beschreibt und umspielt seine Erfahrungen und Eindrücke aus dem Leben und der Arbeit im Hospiz mit warmen Worten, Herzblut und einer frischen, anmutigen, inspirierenden und lesenswerten Perspektive.
Das Beste kommt zum Schluss
„When you are in the final days of your life, what will you want? Will you hug that college degree in the walnut frame? Will you ask to be carried to the garage so you can sit in your car? Will you find comfort in rereading your financial statement? Of course not. What will matter then will be people. If relationships will matter most then, shouldn’t they matter most now?“ (Max Lucado)
Wenn Sie mögen, hinterlassen Sie uns doch Ihre Kommentare. Wir würden uns freuen.