Erwerbsarbeit hat sich in den vergangenen Jahrzehnten massiv verändert. Das ging mit einer Verschiebung des Belastungsspektrums von stärker physischer zu psychosozialer Beanspruchung einher. Insbesondere Trends wie die Globalisierung und damit einhergehende Veränderungen der Arbeitsbedingungen (Arbeitsverdichtung, chronischer Termin- und Leistungsdruck in Folge eines zunehmenden Wettbewerbsdrucks, gestiegene Anforderungen an Flexibilität und Mobilität, unsichere Beschäftigungsverhältnisse usw.) erhöhen die psychosoziale Belastung von Beschäftigten noch weiter. Mit dem Anforderungs-Kontroll-Modell und dem Modell der beruflichen Gratifikationsmodell liegen zwei empirisch gut abgesicherte Modelle vor, die aus der Vielzahl alltäglicher Belastungserfahrungen am Arbeitsplatz jene herausfiltern, die potenziell toxisch, d.h. krankheitswertig, sind.
Kurzbeschreibung beider Modelle
Das Anforderungs-Kontroll-Modell (engl. job strain) geht auf dem amerikanischen Soziologen Robert Karasek zurück und konzentriert sich auf Aspekte der Arbeitsorganisation und Arbeitsinhalte. Es sagt chronische Stressreaktionen dann hervor, wenn Beschäftigte Aufgaben zu bewältigen haben, die sich durch hohe psychische und physische Anforderungen und zugleich einen geringen Grad an Entscheidungsspielraum und Kontrolle über die Ausführung der Tätigkeit charakterisieren lassen. Diese chronischen Stressreaktionen reduzieren nicht nur die Arbeitszufriedenheit, sondern erhöhen insbesondere langfristig das Risiko stressassoziierter Erkrankungen. Hohe Anforderungen ergeben sich insbesondere aus Zeit- und Leistungsdruck, denn diese gehen meist mit einer hohen Anforderungsdichte, einem massiven Arbeitsanfall und einem erhöhten Anstrengungsgrad einher. Tätigkeiten mit geringem Entscheidungsspielraum begrenzen die Lernchancen und Entwicklungsanreize der sie ausführenden Personen, sie führen zum Erleben von Monotonie oder maximaler Fremdbestimmtheit und verhindern so Erfahrungen von Selbstwirksamkeit. Verschärft werden Stresserfahrungen vor allem dann, wenn der erfahrene Rückhalt und soziale Unterstützung als wichtiger Schutzfaktor wegfällt (z.B. weil es infolge des massiven Arbeitsaufkommens zu einer Kündigung von Solidarität und der Zunahme von Vereinzelung kommt).
Das Modell beruflicher Gratifikationskrisen (engl. effort-reward-imbalance) wurde 1996 vom Schweitzer Prof. Dr. Johannes Siegrist erstmals vorgestellt und publiziert. Es nimmt die Besonderheit vertraglicher Austauschbeziehungen in den Blick, wonach im Erwerbsleben für erbrachte Arbeitsleistungen angemessene Gratifikationen gewährt werden. Ausgeprägte Stressreaktionen treten dem Modell zufolge dann auf, wenn Arbeitsbelastungen und Verausgabungen (z.B. Engagement, Wissen, Zeit) nicht in angemessenem Ausgleich zu erhaltenen Belohnungen (z.B. Lohn, Arbeitsplatzsicherheit, Anerkennung/Wertschätzung, Entwicklungsmöglichkeiten) stehen. Überall dort, wo andauernd hohe Verausgabungen keine angemessenen Belohnungen gegenüberstehen, sind Gratifikationskrisen wahrscheinlich. Nach Siegrist sind Gratifikationskrisen besonders wahrscheinlich, wenn Arbeitsplatzalternativen fehlen (z.B. aufgrund geringer Qualifikation oder eingeschränkter Mobilität) und Menschen zu einer übersteigerten Verausgabung neigen. Das Risiko für Gratifikationskrisen ist in den ersten Jahren der Arbeitstätigkeit gering, steigt jedoch bereits ab dem dreißigsten Lebensjahr an. Dann nämlich, wenn die Bereitschaft sinkt, Verausgabungen auf sich zu nehmen ohne entsprechende Gratifikationen zu erhalten (z.B. in den ersten Berufsjahren viel Arbeiten, um die Karriere voran zu treiben) oder bestimmte Gratifikationen keine Anreizwirkung mehr entfalten.
Wissenschaftliche Beweiskraft
Zahlreiche wissenschaftlich hochwertige StudienInsbesondere durch prospektive epidemiologische Studien. Ein guter Übersichtsartikel ist von J. Siegrist und N. Dragano im Bundesgesundheitsblatt 2008 mit dem Titel „Psychosoziale Belastungen und Erkrankungsrisiken im Erwerbsleben. Befunde aus inernationalen Studien zum Anforderungs-Kontroll-Modell und zum Modell der beruflichen Gratifikationskrisen“ erschienen. Empfehlenswert ist auch der „Stressreport 2012″, den die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin“ kostenlos zum Download bereit gestellt hat. belegen den Zusammenhang zwischen den beiden Modellen und stressassoziierten Erkrankungen. Zum Beispiel:
Für Männer und Frauen zeigen sich konsistent in verschiedenen Untersuchungen erhöhte Risiken für depressive Störungen.
Für beide Geschlechter, aber stärker für Männer, zeigen sich eine erhöhte Neuerkrankungsrate an koronaren bzw. kardiovaskulären Krankheiten.
erhöhtes Risiko für die Neuerkrankung an Typ-2-Diabetes (nur für Männer).
erhöhtes Risiko einer Alkoholabhängigkeit
Implikationen für die betriebliche Praxis
Arbeitsbedingungen und Merkmale der Arbeitsorganisation sollten bei der betrieblichen Gesundheitsförderung und Prävention berücksichtigt werden.
Maßnahmen, die allein auf das Verhalten (von Beschäftigten oder Führungskräften) abzielen, reichen nicht aus. Besser ist eine Kombination aus Verhaltens- und Verhältnisprävention. Beschäftigte können über Gesundheitszirkel direkt einbezogen werden.
Individuelle und gruppenbezogene Stressbewältigungsprogramme sollten auch das Wissen um das Zustandekommen von psychosozialen Belastungen und den Umgang mit potenziell belastenden Arbeitsbedingungen fördern (z.B. Wo investieren, wo nicht?)
Gezielte Führungskräfteentwicklungsmaßnahmen zur Verbesserung des Führungsverhaltens und zur Entwicklung einer betrieblichen Anerkennungskultur sind notwendig (denn: Führungskräfte sind nicht nur selbst betroffen, sondern Moderatoren von Anforderungen und Ressourcen für die Beschäftige). Entscheidend ist dabei, dass es zu einem Transfer des Wissens in den Alltag kommt, der allein aus einem Seminarraum heraus unwahrscheinlich ist. Dafür benötigen Führungskräfte Unterstützung, z.B. in Form von kollegialer moderierter Beratung, Supervision oder Transfer-Coaching.
Personal- und Organisationsentwicklungsprogramme sollten insgesamt stärker als bisher die Verbesserung der Leistungs-Belohnungs-Relation in den Blick nehmen (Modell der beruflichen Gratifikationskrise) und die Autonomieentwicklung bei der Arbeitsorganisation fördern (Anforderungs-Kontroll-Modell) und stärker als bisher individualisiert werden (vs. Prinzip Gießkanne für alle)